Eine Transformation durch (R)Evolution

Da die öffentliche Verwaltung in vielen Bereichen nicht – oder nicht unmittelbar – von den Reaktionen des Marktes abhängig ist, ist strategisches Management in der öffentlichen Verwaltung traditionell eher schwach entwickelt. Die Bundesregierung hatte zwar im Jahr 2004 die strategische Perspektive zum Schwerpunkt einer Binnenmodernisierung in der 2. Phase ihres Regierungsprogramms erklärt, das für das strategische Management der öffentlichen Verwaltung zuständige BMI hat dieses Thema aber seit 2010 kaum noch verfolgt und lediglich Teilaspekte (Digitalisierung, Prozessmanagement) in den Fokus genommen. Die Frage, „Was ist das Zielbild der öffentlichen Verwaltung?“, bleibt bis heute unbeantwortet, und somit auch die Frage, wohin die öffentliche Verwaltung im Rahmen der Transformation entwickelt werden soll.

Wenn man die Bürger fragt, so erwarten sie vor allem

  • eine Online-Erledigung ihrer Behördenangelegenheiten, vom Antrag bis zur digitalen Bereitstellung von Nachweisen und Dokumenten
  • schnelle Antworten / schnelle Erledigung bei Standardangelegenheiten
  • mehr Bürgerorientierung, eine Verwaltung, die fähig ist, die Bürgerperspektive einnehmen
  • eine deutlich gesteigerte Effizienz; nur 19% glauben, dass Behörden und Ämter ähnlich effizient arbeiten wie Unternehmen (eGovernment Monitor 2024)
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Umsetzungshebel

Diese Erwartungen muss man im Zusammenhang sehen mit einem zunehmend erodierenden Vertrauen der Bürger in die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung. Rund 70% halten den Staat in Bezug auf seine Aufgabenwahrnehmung und Problemlösung für überfordert; die gefühlte Leistungsfähigkeit ist seit 2019 kontinuierlich gesunken und wird von 46% der Bürger im Vergleich zu den Vorjahren als geringer eingeschätzt. (Bürgerbefragung „Öffentlicher Dienst 2024“, dbb) Bei der Bewertung dieser Zahlen muss man sicherlich berücksichtigen, dass die Bürger nicht in dem geboten Maß zwischen Politik und Verwaltung differenzieren und dass auch die Erwartungshaltung und das Anspruchsdenken der Bürger gegenüber dem Gemeinwesen stetig zugenommen hat. Dazu hat die Politik durch vollmundige Ankündigungen, Betreuungsgarantien und Entlastungspakete ihren Beitrag geleistet. Vor allem aber wurden die Umsetzungsmöglichkeiten auf der kommunalen Ebene völlig außer Acht gelassen und dem Politikmarketing geopfert. Weniger könnte hier mehr sein.

Die Umsetzung eines Zielbildes, das den Erwartungen der Bürger Rechnung trägt, erfordert jedoch bei der derzeitigen Kultur, den gegebenen Strukturen und der bekannten „Deutschlandgeschwindigkeit“ eher eine Revolution als eine Evolution durch kontinuierliche Verbesserung. Man gewinnt den Eindruck, dass alle Maßnahmen, die strategisch für die Bewältigung der Zukunft wichtig sind, den operativen Erfordernissen der Gegenwart geopfert werden: Man hat keine Zeit die Axt zu schärfen, es müssen ja so viele Bäume gefällt werden.

Vier strategische Umsetzungshebel müssen aufeinander abgestimmt für eine Transformation der öffentlichen Verwaltung bedient werden.

  • Steuerungsysteme
  • Organisation
  • Kultur / Mindset
  • Personal

Wirkungsorientierte Steuerung und Führung

Nach einer seit den 90er Jahren gestarteten Diskussion und vor allem in der Schweiz eingeführten Wirkungsorientierten Verwaltungsführung (WoV) hat der Bund in den 2010er-Jahren begonnen, eine ziel- und wirkungsorientierte Haushaltsführung zu etablieren. Dies geschah jedoch eher durch punktuelle Veränderungen als auf Basis eines systematischen Konzepts (z.B. Subventionspolitische Leitlinien, Spending Reviews). Ein beauftragtes systematisches Konzept zur Einführung einer ziel- und wirkungsorientierten Haushaltsführung wurde der Bundesregierung Anfang 2024 von ZEW und Deloitte vorgelegt.
Damit nun mit einer Top-down-Umsetzung dieses Konzeptes nicht wieder 15 Jahre verrinnen, sollten die Länder und Kommunen sich bei ihrer Haushaltsführung an dieser Blaupause orientieren.
Die Bereitstellung von Geld ist nicht ausreichend, selbst die Aussage der Politik, das Geld müsse auch ankommen, trifft nicht den Punkt. Erst wenn durch den Einsatz der Finanzmittel die beabsichtigte Wirkung erzielt wird, sind Haushaltsmittel sinnvoll eingesetzt.
Wirkungsorientierte Haushaltssteuerung erfordert aber auch auf der Beschäftigtenebene eine Führung mit Wirkungszielen und leistungsorientierten Kennziffern. Dies gilt besonders dann, wenn Beschäftigte zeitlich und räumlich flexibel arbeiten, was von der Verwaltung ausgiebig als einer ihrer Arbeitgebervorteile beworben wird.
Durch Zielkongruenz von Staat/Behörde und Beschäftigten wird die Basis gelegt für eine Steigerung der Produktivität, eine leistungsorientierte und leistungsgerechte Unternehmenskultur und letztlich auch für eine leistungsorientierte Vergütung,
Eine auf Ergebnis- und Leistungszielen basierende Kultur und Führung spricht im Übrigen eher Menschen an, die risikobereit, innovativ und selbstsicher sind, also Menschen mit einem Mindset, den Transformation braucht und der von der öffentlichen Verwaltung zumindest im Digitalisierungsumfeld auch gesucht wird.

Die Verwaltung auf Speed

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Organisation

Im Rahmen der organisatorischen Umsetzung der Transformation liegt der Fokus auf den Handlungsfeldern Digitalisierung, Struktur und Prozesse, die stark miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen.

Nirgendwo in der öffentlichen Verwaltung ist eine neue Deutschlandgeschwindigkeit im Hinblick auf unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit so dringlich wie bei der Digitalisierung. Die

  • bisher verstrichene Zeit,
  • vergleichsweise dürftigen Ergebnisse,
  • allein beim Bund aufgelaufenen Kosten in Milliardenhöhe (in der Gesetzesvorlage zum OZG-Änderungsgesetz von 2023 waren einmalige Mehrausgaben in Höhe von insgesamt rund 694 Millionen Euro geschätzt),
  • die immer noch fehlenden Grundlagenentscheidungen (z.B. zu Architekturstandards und Systemstandards),

zeigen, dass die Komplexität des Vorhabens von Beginn an unterschätzt wurde. Der Prozess, eine den Erfordernissen gerechte Ablauf- und Strukturorganisation zu finden und die erforderlichen Fachkräfte unter Vertrag zu nehmen ist bis heute nicht abgeschlossen. Dies behindert die Umsetzung nachhaltig.

Was ist erforderlich für mehr Speed?

  • Die dem Föderalismus geschuldeten Gremienstrukturen des Digitalisierungsprojektes sollten verschlankt werden. Die Aufgabe fordert eher fachlich-strategische als politische Kompetenz. Erfordernisse der Einstimmigkeit sollten durch Mehrheitsentscheidungen ersetzt werden, da Einstimmigkeit zwar den Kompromiss aber selten die Effektivität und Effizienz befördert.
  • Das Sollen“ und „Können“ des EfA-Prinzips ist durch ein „Müssen“ zu ersetzen. Mehr Verbindlichkeit, auch in den offiziellen Verlautbarungen, ist wünschenswert und zielführend.
  • Die Anzahl der Fachsilos ist auf allen Ebenen zu reduzieren (Bundes- und Landesministerien, Dezernate/Ämter auf kommunaler Ebene). Synergien sind durch Zusammenlegung gleichartiger Aufgaben zu heben. Dies gilt auch für die Ausstattung der Länder mit kommunalen IT-Dienstleistern, die sich zwischen 18 in NRW und 1 in Baden-Württemberg bewegen.
  • Querschnittliche Aufgaben müssen „vor die Klammer gezogen“ werden und einer Organisationseinheit mit echter Budgetverantwortung und Entscheidungskompetenz zugeordnet werden (z.B. für IT-Systeme, die in unterschiedlichen Fachsilos genutzt werden)
  • Innerhalb der Verwaltung müssen die strukturellen Silos neu aufgestellt werden:
    • Abflachung der Hierarchien und Vergrößerung der direkten Führungsspannen
    • Stärkere Entscheidungsdelegation auf die Ebene der jeweils höchsten Fachkompetenz
    • Entlastung der Führungskräfte von eigenen Fachaufgaben und Fokussierung auf Management und Mitarbeiterführung
  • Für querschnittliche Prozesse muss eine einheitliche Prozessverantwortung etabliert werden, Prozesse müssen generell schlanker gestaltet werden.
  • Bürokratie durch Überregulierung (zu viel, zu detailliert), Fehlregulierung (unzweckmäßige oder widersprüchliche Regeln aus überlappenden Zuständigkeiten) und Unterregulierung (fehlende Standards) muss abgebaut werden

Die Gesamtheit dieser Maßnahmen muss dazu beitragen, dass die aus Digitalisierung und Restrukturierung resultierenden Effizienzeffekte systematisch geerntet werden. Eine Verkürzung von Bearbeitungszeiten, Verbesserung von Antwortzeiten, Steigerung des Antragsdurchsatz, Reduzierung von Fehlerraten und Nachbearbeitungsbedarfen muss eine Anpassung der Personalressourcen nach sich ziehen.
Dass neben dem notwendigen Stellenzuwachs z.B. bei Polizei, Pflege, Kinderbetreuung auch im Aufgabenbereich „politische Führung und zentrale Verwaltung“ auf allen staatlichen Ebenen innerhalb der letzten 10 Jahre ein Aufwuchs von 118.000 Stellen stattfand (Bund +32 %, Länder +21 %, Kommunen 27 %), ist nicht akzeptabel und ausschließlich der Ineffizienz der Verwaltung geschuldet.
Es entsteht der Eindruck, dass immer mehr Mitarbeiter bürokratische Regeln erfinden, und mehr bürokratische Regeln wiederum einen immer höheren Personalbedarf verursachen. Dieser Teufelskreis der sich selbst vermehrenden Bürokratie muss durchbrochen werden.

Verwaltungskultur

Nicht nur im Koalitionsvertrag 2021-2025 der Ampelregierung, auch seitens der verschiedensten Interessengruppen wird gefordert, die Verwaltung müsse agiler und digitaler werden, sie müsse stärker auf interdisziplinäre und kreative Lösungen setzen und das Silodenken überwinden. Vor diesem Hintergrund hat die Koalition von CDU/CSU und SPD unter Führung von Friedrich Merz vereinbart, in 2025 eine ambitionierte Modernisierungsagenda für Staat und Verwaltung zu erarbeiten. Da bleibt zu hoffen, dass auf dieser Agenda auch der erforderliche Kulturwandel der Verwaltung steht.

Ein Kulturwandel ist weniger eine Frage der eingesetzten Technik (Digitalisierung) oder moderner Arbeitsmethoden (agile Techniken) sondern vor allem eine Frage der Haltung, der Einstellung, des Mindset aller in der öffentlichen Verwaltung Tätigen. Prägende Imagemerkmale der heutigen Kultur der öffentlichen Verwaltung sind Rechtssicherheit, Ordnung, Verlässlichkeit, Objektivität und Stabilität. Der geforderte kulturelle Wandel bedeutet nun eine stärkere Gewichtung von

  • Flexibilität und Wandlungsfähigkeit,
  • Dynamik und Offenheit für Neues
  • Ergebnis- und Leistungsorientierung/Effizienz

im Set der Kulturmerkmale der öffentlichen Verwaltung.

Dies wird nicht erreicht durch Karriereseiten und Personalsuchanzeigen, die die Verwaltung einerseits als „vielfältig, modern, bunt und attraktiv“ positionieren, aber andererseits das vom öffentlichen Dienst erwartete Sicherheits- und Kuschelimage bewerben (Sicherheit des Arbeitsplatzes, Altersversorgung, Sabbatical, Familienfreundlichkeit, Fortbildung für alle usw.). So werden eher Zielgruppen angesprochen, die nicht für einen Kulturwandel stehen.

Eine Leistungskultur wird nicht nur durch als leistungsadäquat empfundene Anreize gefördert, sondern auch dadurch, dass Low Performance Konsequenzen hat. Der vielfach fehlende ambitionierte Leistungsanspruch führt dazu, dass bereits Normalleister als Leistungsträger angesehen werden und dass das Absitzen von Zeit sich mehr auszahlt als Leistung.

Die öffentliche Verwaltung braucht mehr Vertrauenskultur statt Mikromanagement. Fehlendes Vertrauen ist die Hauptquelle aller intern- und extern wirksamen Bürokratie. Vertrauen muss jedoch verdient werden, sonst bleibt es bei einem Vertrauensvorschuss. Man verdient sich Vertrauen durch Konsistenz zwischen Sagen und Tun, zwischen Ankündigung und Lieferung. Das schließt auch ein, dass über die Folgen von ausbleibender/verspäteter oder mangelhafter Lieferung gesprochen wird und dann die angekündigten Konsequenzen folgen.

Vertrauen ist eine ganz wesentliche Basis für die Etablierung einer Fehlerkultur, in der es nicht um die Suche nach Schuldigen und ihre Bestrafung geht, sondern um das Lernen aus Fehlern. Nur wenn dies gegeben ist, ist Wandel, Innovation und Offenheit für Neues möglich.

Personal

Die Personalämter nehmen bisher ganz überwiegend bis ausschließlich Verwaltungs- und Administrationsaufgaben wahr, strategisch erforderlich ist jedoch ein Personalmanagement entlang des gesamten MA-Lebenszyklus. Bei der Rekrutierung, Vergütung, Entwicklung und Bindung von Personal befindet sich die öffentliche Verwaltung in einer Wettbewerbsposition mit der Wirtschaft und muss sich daher in der HR-Funktion auch aufstellen wie der Wettbewerb. Die öffentliche Verwaltung braucht vor diesem Hintergrund

  • eine strategisch orientierte Personalplanung, die insbesondere die durch Demografie, fortschreitende Digitalisierung und KI-Einsatz sich verändernden Quantitäten und Anforderungsprofile in den Blick nimmt.
  • ein Recruiting, das sich weniger an Formalqualifikationen ausrichtet, sondern an nachgewiesenem Track Record und Erfahrung und sich für Seiteneinsteiger und ungewöhnliche Werdegänge öffnet. Gebraucht werden weniger Juristen, die Probleme suchen und beschreiben können, sondern solche, die Probleme lösen, ohne sich in dem Versuch verlieren, für Einzelfallgerechtigkeit sorgen zu wollen.
  • eine Anpassung der beamtenrechtlichen Dienstrechtsstrukturen und der Eingruppierungs- und Vergütungsstrukturen des TVöD (incl. LoB) an zukunftsorientierte Anforderungen, um damit auch der Entgelttransparenzrichtlinie der EU zu genügen.
  • eine nicht nur ins Schaufenster gestellte, sondern gelebte Arbeitgebermarke. Die gewandelte Kultur muss für alle Mitarbeitenden erlebbar sein. Dazu bedarf es umfänglicher Vorbereitungen der Führungskräfte, die Motor des Wandels sein müssen (Change Management Kompetenz).

Wenn die dargestellten Initiativen der Steuerung, Organisation und des personellen und kulturellen Wandels nicht nur gestartet, sondern in einem überschaubaren Zeitraum von 2 Legislaturperioden auch erfolgreich durchgeführt werden sollen, reicht kein Weckruf und keine kontinuierliche Veränderung in kleinen Schritten, sondern es bedarf wohl eher eines Kulturschocks und einer Revolution. Dazu ist politischer Wille, Führung und auch Kraft zur Verkündung von „Zumutungen“ erforderlich.

Euer

Ulrich Schönenberg